Gastbeitrag von Christian Spließ, Fett-Aktivist
Wenn das Wort Bodypositivity fällt, dann denkt man in erster Linie an Frauen. Denn Schönheits- und Schlankheitsideale, Diäten und wechselnde Körpertrends richten sich vor allem an sie. So scheint es zumindest. Wie halten es Männer mit Bodypositivity?
Wenn man sich am Bahnhofskiosk umschaut, sind die ganzen Diätkultur-Anforderungen in den ausliegenden Blättchen an Frauen gerichtet. Die bisher einzige deutschsprachige Spezial-Zeitschrift für Mehrgewichtige ist „The Curvy Magazine“, zwar ab und an auch mal mit Modetipps für mehrgewichtige Männer, in der Regel aber eine reine Frauenzeitschrift (→ Wo finde ich schicke Mode in großen Größen?). Wer also als Mann Material sucht zum Thema Bodypositivy, der wird bei Zeitschriften und Magazinen nicht fündig, im Buchhandel allerdings auch nicht.
Bleibt nur der Blick ins Internet. Aber auch hier findet man selten Blogs oder Magazine, die sich der Bodypositivy für Männer verschrieben haben. Ist es da ein Wunder, dass Männer selten über Bodypositivity reden? Oder den eigenen Körper jenseits von „Ich habe mal wieder zu-/abgenommen“ thematisieren? (→ „Und was ist mit Männern?“ Diskriminiert Body Positivity Männer? (Marshmallow Mampfschrift))
Wann ist ein Mann ein Mann?
Auch ein Problem ist, dass seit Jahrzehnten ein gewisses Ideal des Mannes an Jungen weitergegeben wird. Männer sind stark. Sie haben Muskeln. Sie fühlen keinen Schmerz. Männer werden dazu erzogen, dass die Last der Welt auf ihren breiten Schultern liegt. Männer müssen durchhalten (→ Sei lieb zu dir!).
Was dann zum Beispiel dazu führt, dass sie meistens erst dann zum Arzt gehen, wenn sie schon nicht mehr krauchen können. Wie Grönemeyer statuierte: „Männer leiden heimlich.“ Offen mit ihren Gefühlen umzugehen und darüber zu reden wird ihnen nicht beigebracht (→ Selbstwertgefühl stärken bei Übergewicht – 3 Tipps).
Gerne wird dieses harte, muskulöse Ideal auf die Römer oder Griechen zurückgeführt – deren Statuen führen schließlich in jedem Museum vor Augen, wie Männer sein sollten. Dass diese auch eher Idealvorstellungen sind, wird meist außen vor gelassen.
Wie sich das heutige Männerideal entwickelt hat
Dabei hatten wir in der Romantik auch schon ein anderes Ideal des Mannes: Er war empfindsam, einfühlsam, unterdrückte die Gefühle nicht. Noch im Sturm und Drang zeichnete Goethe in „Die Leiden des jungen Werther“ einen enthusiastischen, empfindsamen und gefühlsreichen jungen Mann. Spätestens aber mit der Weimarer Klassik änderte sich das.
Was häufig auch übersehen wird: Die Erziehung im Dritten Reich war darauf ausgerichtet, den Mann zu einem Soldaten zu formen. Dass nach Ende von Hitlers Herrschaft diese Werte nicht einfach so verschwinden, sondern weitergetragen werden, ist etwas, was selten Beachtung findet. Vor allem haben die Nazis eine Menge dazu beigetragen, gewisse Verhaltensweisen als „weibisch“ zu brandmarken.
Bäuche und Macht
Dass dennoch mit zwei Maßstäben in unserer Gesellschaft gemessen wird, hat man unter anderem an der „Dadbod“-Bewegung auf Instagram vor einigen Jahren gesehen. Deutsche kennen das Phänomen des „Bierbauches“, das unter Männern kumpelhaft und eher verschmitzt angesprochen wird.
Väter dürfen während der Erziehung der Kinder bis zu einem gewissen Grad zunehmen, ohne Repressalien zu fürchten. Würde eine Frau genau dasselbe machen, hieße es, dass sie sich vernachlässige. Zudem käme automatisch das Etikett „schlechte Mutter“ hinzu (→ Du bist genug (und warum du das nicht glauben kannst)).
Selten wurde zu Zeiten von Helmut Kohl über sein Gewicht gesprochen. Gelegentlich nahm auch der ehemalige Bundeskanzler ab und dann wieder zu, aber das Thema wurde nie richtig breitgetreten (→ Warum du einfach nicht abnehmen kannst und der Jo-Jo-Effekt immer wiederkommt). Eher war das Rezept des von ihm geliebten Saumagens interessant.
Warum sollten sich Männer überhaupt mit Bodypositivity beschäftigen?
Gewichtige Männer in der Gesellschaft, die in der Führungsebene angekommen sind, werden von der Gesellschaft in Ruhe gelassen. Sie haben ja etwas erreicht und zudem macht Macht durchaus auch sexy – jenseits dessen, was die Waage anzeigt.
Aber auch hier zeigt sich, dass die Gesellschaft mit zweierlei Maß misst: Man braucht nur den Namen von Ricarda Lang von den Grünen zu erwähnen, schon ist innerhalb von Sekunden der erste fettfeindliche Kommentar zu lesen (→ So kannst du dich gegen Body Shaming wehren).
Männern wird also von der Gesellschaft auch ein gewisser Freiraum zugestanden. Und wer sich innerhalb dieses Freiraums bewegt – warum sollte der sich mit Bodypositivity beschäftigen? Er hat ja gar keinen Grund dazu (→ Body Positivity Kritik: Was Body Positivity nicht ist).
Die Diätkultur macht auch vor Männern nicht Halt
Dass Männer diätkulturell ähnlich unter Druck gesetzt werden wie Frauen, ist dennoch kaum bestreitbar. Es genügt ein Blick in die Werbung oder in die „Men’s Health“: schwitzende, muskulöse Männerkörper machen Reklame für Fitnessstudios, durchtrainierte Männer springen für Deos von Klippen, Actionfiguren sind muskelbepackt (→ Warum wir das Schönheitsideal überwinden müssen). Tipps zum Abnehmen sind in Männermagazinen auch die Regel (→ Kann ich body-positiv sein und gleichzeitig abnehmen? (Marshmallow Mampfschrift)).
Bestes Beispiel für das Verhältnis von Diätkultur und Männern: Thor in den Marvel-Verfilmungen. Am Schluss von „Avengers: Endgame“ zieht er sich deprimiert zurück. Im nächsten Film sehen wir ihn dann fett, versifft und abstoßend. In „Thor: Love and Thunder“ folgt sodann die Trainingssequenz, mit der er wieder ansehnlich – muskulös, gepflegt, aktiv – wird (→ Darf ich dicke Menschen unattraktiv finden? (Marshmallow Mampfschrift)). Die Botschaft: Männer dürfen zwar irgendwie trauern, sich aber doch dabei bitte nicht körperlich gehenlassen. Wäre ja noch schöner…
Viele kleine Schritte können das Gesicht der Welt verändern
Es ist an der Zeit, dass mehr über diese Dinge geredet wird. Es wird Zeit, dass Eltern die vorgegebenen männlichen Ideale hinterfragen. Dass Wert auf eine Erziehung gelegt wird, die keine toxischen Bilder von Männlichkeit vermittelt. Was in unserer Gesellschaft – zugegebenermaßen – sehr, sehr schwer ist.
Aber es ist möglich. Ebenso wie ein Gespräch von Frau zu Mann möglich ist – über Körper und Körperformen. Darüber, dass man nicht nur beim Fußball oder Sport weinen darf, sondern immer, wenn man(n) weinen möchte.
Ich bin mir sicher, dass es möglich ist. Es wird nur eine Zeitlang dauern. Aber machen wir uns dennoch gemeinsam auf den Weg.
Christian Spließ brennt für die Themen Intuitive Eating und Health At Every Size so sehr, dass er momentan eine Ausbildung zum zertifizierten Intuitive-Eating-Counselor macht. Als Social-Media-Manager betreut und entwickelt er Konzepte und Formate für Kulturinstitutionen, zuletzt unter anderem für das MusikfestION oder den Johann-Joachim-Violin-Wettbewerb. Da aller guten Dinge drei sind: Als nebenamtlicher Kirchenmusiker ist er bei der Evangelischen Kirche im Rheinland angestellt.
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