Wer dicke Körper respektiert, womöglich liebt oder sogar schön findet, verherrlicht den krankhaften Zustand des Übergewichts. So wird es Menschen, die für Body Positivity einstehen, oft vorgeworfen. Aber kann man mit einer body-positiven Einstellung überhaupt Übergewicht glorifizieren?
Kurze und lange Antwort: nein.
Body Positivity vs. Übergewicht verherrlichen
Ausführlichere Antwort: Body Positivity hat mit einem hohen Gewicht nicht unbedingt etwas zu tun. Sie bezieht sich nicht nur auf dicke Körper, sondern auf alle Körper, die als nicht „erstrebenswert“ gelten und deshalb Diskriminierung und Body Shaming ausgesetzt sind (→ Was ist Body Positivity?). Es ist allerdings eine Bewegung, die von fetten Menschen begründet und durch Plus-Size-Blogger_innen bekannt wurde (→ Eine kurze Geschichte der Body Positivity)
Dennoch: Niemand würde einem Menschen mit einem Bein, der Fotos von sich ins Internet stellt, auf denen er glücklich aussieht, vorwerfen, dass er andere Menschen dazu animiert, sich ein Bein abzuschneiden. Genauso animieren Menschen, die body-positiv leben und/oder sich für die Akzeptanz dicker Körper einsetzen, nicht dazu, an Gewicht zuzulegen (→ Warum du dicke Heldinnen brauchst). Was sie fordern, ist, dass dicke Körper nicht diskriminiert und dicke Menschen als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft akzeptiert werden.
Kern des Konzepts der Body Positivity ist Respekt. Es geht nicht darum, bestimmte Körpertypen schön oder erstrebenswert zu finden (→ Was Body Positivity nicht ist), sondern darum, Menschen mit diesen Körpern nicht auszugrenzen.
Die Mär vom krankhaften Übergewicht als Rechtfertigung für Body Shaming
Ein Argument, das gegen die Darstellung dicker Körper immer wieder ins Feld geführt wird, ist, dass die Gesundheitsgefahr von Mehrgewicht durch Body Positivity verharmlost würde (→ Warum Body Positivity nichts mit Gesundheit zu tun hat). Diese Behauptung ist nicht nur falsch, sondern macht auch noch den Anschein, die Diskriminierung kranker Menschen wäre gerechtfertigt: Weil Mehrgewichtige krank sind, ist es okay, sie respektlos zu behandeln.
Für kaum eine Erkrankung konnte in wissenschaftlichen Studien ein kausaler Zusammenhang mit einem hohen Gewicht festgestellt werden. Die Vorgänge, die zur Entstehung einer Krankheit führen, sind einfach viel zu komplex und lassen sich niemals auf nur einen Faktor herunterbrechen (→ Risikofaktor Übergewicht? Macht Mehrgewicht krank?).
Gesundheit ist zudem nicht nur die Abwesenheit körperlicher Erkrankungen. Physische Signale wahrnehmen, die mentale Gesundheit priorisieren, Achtsamkeit und Selbstfürsorge – das alles macht eine body-positive Lebenseinstellung aus. Ist das ungesund?
Fat-Shaming essen Seele auf
Dass wir dennoch glauben, Mehrgewicht wäre ein Gesundheitsrisiko, liegt an unzulänglichen Auswertungen vorurteilsbelasteter Betrachtungen. Wenn Menschen mit einer bestimmten Erkrankung häufig ein hohes Gewicht hatten, ging man davon aus, dies wäre die Ursache der Krankheit. Korrelation wurde mit Kausalität verwechselt; das kommt im wissenschaftlichen Betrieb nicht selten vor, weshalb Ergebnisse immer wieder hinterfragt und reproduziert werden müssen.
Doch in diesem Fall wurden die angenommenen Kausalitäten lange nicht hinterfragt. Warum? Weil dicke Menschen auch in Wissenschaft und Medizin diskriminiert und vorverurteilt werden. Der Weight Bias ist eine Unterform des Confirmation Bias (Bestätigungsfehler): Menschen neigen unbewusst dazu, ihre eigene Meinung bestätigen zu wollen und interpretieren neue Informationen dahingehend. Gesellschaftliche Vorurteile über mehrgewichtige Menschen und deren Gesundheitszustand spiegeln sich also auch in der Forschung, vor allem dann wenn die Forschenden sich des eigenen Weight Bias nicht bewusst sind – oder damit Geld verdienen (→ Was ist internalisierte Fettphobie?).
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Insofern ist es nicht korrekt, dass gesellschaftlich gelesenes Übergewicht kein Gesundheitsrisiko darstellt; es kommt nur aus einer anderen Richtung, als wir erwarten: Dicke Körper sind unzureichend erforscht, dicke Menschen werden medizinisch schlechter oder gar nicht behandelt und gehen deshalb seltener zum Arzt; sie werden im öffentlichen Leben diskriminiert (→ Wo sind all die Dicken hin? | Übergewicht im öffentlichen Raum), im Privatleben erfahren sie häufig Body Shaming und Ausgrenzung [Link zu Ärzteblatt]; sie leiden infolgedessen öfter unter Essstörungen, Depressionen und Angsterkrankungen (→ Das Bermudadreieck der Dicken – was uns wirklich umbringt).
Übergewicht braucht keine Werbung
Wie soll man das glorifizieren? In unserer schlankheitsfanatischen Gesellschaft möchte niemand dick sein. Wenn dies also eine willentliche Entscheidung wäre, gäbe es keine mehrgewichtigen Menschen, denn dieser Tortur setzt sich niemand freiwillig aus.
Anstatt jedoch eine diskriminierende Gesellschaftsstruktur zu kritisieren, rechtfertigt man Body Shaming damit, dass dicke Menschen schließlich selbst an ihrem Gewicht schuld wären. Auch das stimmt nicht (→ Warum werden wir dick?). Und wieder dieser Beigeschmack: Es ist okay, jemandem, von dem man meint, dass er sein Unglück selbst verschuldet hätte, die Würde zu entziehen.
Auf diese Weise drängt die Gesellschaft dicke Menschen in eine Ecke, aus der sie nicht mehr herauskommen. Sie stigmatisieren sich selbst, isolieren sich, entwickeln psychische Erkrankungen. Sie schaden ihrem Körper mit zum Scheitern verurteilten Diäten, die sie unglücklicher, dicker, essgestörter und kränker machen (→ Wie Diäten dich dick und krank machen).
Woher kommt der Vorwurf, dass Body Positivitiy Übergewicht verherrliche?
In einer Gesellschaft, die nach Schlankheit strebt, in der ganze Industrien auf einer Diätkultur aufbauen (→ Warum wir das Schönheitsideal überwinden müssen), sind dicke Menschen, die sich dem Schönheitsideal widersetzen, eine Gefahr. Wird uns suggeriert, Schönheit, Erfolg, Glück, Gesundheit und Anerkennung wären nur erreichbar, wenn wir dem Schönheitsideal entsprechen, so strafen schöne, erfolgreiche, glückliche, gesunde und anerkannte Dicke diesen Glaubenssatz Lügen (→ Body-positiv leben: Negative Glaubenssätze erkennen und auflösen).
Sie zeigen, dass es ohne Selbstoptimierungsfanatismus einen Weg zum Lebensglück gibt (→ Macht Abnehmen dich glücklicher?). Damit stellen sie aber nicht nur unser gesellschaftliches Glaubenssystem, sondern auch die Lebensmodelle vieler Menschen infrage. Durch ihre bloße Existenz provozieren sie Gegenwehr (→ Warum reagieren alle so aggressiv, wenn es um dicke Menschen geht?).
Wie kann es sein, dass ich mich abrackere, um von der Gesellschaft akzeptiert zu werden, und ein dicker Mensch lebt ohne diese ganzen Entbehrungen und Anstrengungen einfach glücklich? Body Positivity ist eine Revolution – und die hat nicht in erster Linie mit Gewicht zu tun. Sie fordert Leistungsgesellschaft, Kapitalismus und patriarchale Strukturen heraus (→ Wie der Kapitalismus deinen Körper kaputt macht).
Glorifiziert Body Positivity Übergewicht?
Glorifiziert Body Positivity Übergewicht? Es ist doch vielmehr so, dass wir in einer Kultur leben, die durch die Verbreitung von Falschbehauptungen ganz gezielt Propaganda für ein Schlankheitsideal macht, mit dem sich viel Geld verdienen lässt. Es gibt ein Thin Privilege; für dicke Menschen gibt es lediglich Abwertung und Diskriminierung.
Ist es womöglich kein Zufall, dass das derzeitige Schönheitsideal so unerreichbar ist, dass wir uns – egal wie sehr wir uns optimieren – immer unzulänglich fühlen werden? Wie viel Profit kann man in einer Gesellschaft machen, in der sich jede_r für „zu dick“ hält?
„Übergewicht“ wird alles andere als glorifiziert. Wie viele Menschen kennst du, die bewusst zunehmen wollen, weil sie ein Plus-Size-Model gesehen haben? Und wie viele Menschen hast du in deinem Bekanntenkreis, die versuchen, ihr Gewicht zu reduzieren? Weil sie glauben, ihr Gewicht wäre unattraktiv und ungesund? Weil sie einen „gesunden“ BMI erreichen wollen (→ Warum der Body-Mass-Index Unsinn ist)? Weil sie „schöner“ aussehen wollen?
Ein hohes Gewicht kann in einer solchen Diätkultur überhaupt nicht glorifiziert werden, denn die psychosozialen Konsequenzen für dicke Körper in unserer fettfeindlichen Gesellschaft sind massiv (→ Was Body Shaming bedeutet und was du dagegen tun kannst). Die Diskussion darüber ist eine Nebelkerze, ein Whataboutism. Body Positivity verherrlicht nichts, denn sie überhöht weder noch wertet sie ab (→ Ist Body Positivity nicht zu… positiv?). Body Positivity fordert Respekt gegenüber allen Körpern. Und dass das Widerstand erzeugt, sollte uns zu denken geben.
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