Übergewicht gilt als Risikofaktor schlechthin für Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck. So sagt man. Doch lässt sich das wissenschaftlich belegen? In diesem Artikel erfährst du, warum ein hohes Gewicht nicht der Risikofaktor ist, für den du es immer gehalten hast, und wie es Diäten sind, die dich krank machen.
Risikofaktor Übergewicht: Macht Mehrgewicht krank?
Es wird gebetsmühlenartig wiederholt: Risikofaktor Übergewicht – Übergewicht ist ungesund – Übergewicht verursacht Krankheiten. An dieser Stelle zeigt sich schon, wie hartnäckig so ein kollektiver Glaubenssatz sein kann (→ Body-positiv leben: Negative Glaubenssätze erkennen und auflösen). Ein diätetischer Lebenstil sowie die Gewichtsabnahme werden als Heilmittel gepredigt, und zwar von Laien und von medizinischem Fachpersonal gleichermaßen.
Doch die Problematik beginnt schon mit der Definition, was das sogenannte Übergewicht eigentlich ist. Der willkürliche Body-Mass-Index (BMI) ist hierbei wenig aussagekräftig (→ Warum der Body-Mass-Index Unsinn ist). Selbst wenn wir ihn heranziehen: Abgesehen von statistischen Extremen kann anhand des BMI kein erhöhtes Sterberisiko von mehrgewichtigen Menschen gezeigt werden [Link zu „Body mass index and mortality: a meta-analysis based on person-level data from twenty-six observational studies“]. 20 bis 30 Prozent der nach dem BMI als adipös geltenden Menschen – die sogenannten „Happy Obese“ – weisen nicht einmal ein erhöhtes Krankheitsrisiko auf [Link zu MedizinReport].
Ist ein hohes Gewicht überhaupt Risikofaktor?
Was wir als gesicherte Information betrachten – nämlich, dass Übergewicht Krankheiten verursacht -, ist eigentlich die mangelhafte Interpretation von mangelhaften Ergebnissen mangelhafter Studien, die viele Faktoren nicht berücksichtigt haben. Sie zeigen Korrelationen von einem hohen Gewicht und bestimmten Erkrankungen, die fälschlicherweise als Kausalitäten interpretiert wurden. Das bedeutet, dass Mehrgewicht zwar gehäuft mit einigen Krankheiten auftritt, aber nicht deren Ursache ist. Heute ist der Satz „Übergewicht macht krank“ nur eine Tradition, keine wissenschaftliche Tatsache.
Fun Fact gleich zu Beginn: Die einzige Erkrankung, für die ein kausaler Zusammenhang mit einem hohen Körpergewicht nachgewiesen werden konnte, ist Arthrose (Gelenkverschleiß). Dennoch ist Mehrgewicht auch hier nicht der einzige Risikofaktor. Arthrose ist letztlich ein natürlicher Verschleißvorgang; zwei Drittel der Menschen über 65 Jahren sind davon betroffen [Link zu „The Pathogenesis of Osteoarthritis“].
Schauen wir uns verschiedene mit sogenanntem Übergewicht assoziierte Erkrankungen und ihre Entstehung genauer an:
Risikofaktor Übergewicht: Verursacht Übergewicht Diabetes?
Diabetes gilt sicherlich als die „Dicken-Krankheit“. Rund 80 Prozent der Diabetiker_innen sind mehrgewichtig. Jedoch sind auch etwa 15 Prozent der Typ2-Diabetiker_innen „normalgewichtig“ [Link zu Diabetes Ratgeber]. Ein hohes Gewicht alleine kann also nicht die Ursache sein.
So konnte bisher auch keine Studie nachweisen, dass Übergewicht zu Diabetes führt [Link zu „Biomedical Rationale for a Wellness Approach to Obesity: An Alternative to a Focus on Weight Loss“]. Stattdessen zeigt die Diabetesforschung immer wieder und übereinstimmend, dass die Ursachen von Diabetes – sowohl Typ 1 als auch Typ 2 – in den Genen liegen.
Die Forscher_innen vermuten deshalb, dass die Gene, die für die Entwicklung einer Diabeteserkrankung verantwortlich sind, auch an der Entwicklung eines hohen Gewichts beteiligt sind. Bereits in den 80er und 90er Jahren wurde in Studien nachgewiesen, dass eine Insulinresistenz oftmals zu einer Gewichtszunahme führt [Link zu „Acute Postchallenge Hyperinsulinemia Predicts Weight Gain“]. Mehrgewicht ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Risikofaktor für, sondern ein frühes Symptom von Diabetes.

Darüber hinaus zeigt sich in Studien wiederholt, dass Faktoren wie Armut und Ausgrenzung mit einem höheren Diabetesrisiko verbunden sind als der BMI (→ 5 Gründe, warum wir mit Body Shaming aufhören müssen). Das ist auch deshalb ein interessanter Zusammenhang, weil einkommensschwächere Menschen und Personen mit einem „niedrigen sozialen Status“ häufiger mehrgewichtig sind. Wie eine großangelegte kanadische Studie zeigt, können sich diese Personengruppen einen „gesunden Lebensstil“ weder finanziell noch zeitlich leisten [Link zu „The social determinants of the incidence and management of type 2 diabetes“].
Schließen diese Erkenntnisse den Risikofaktor Übergewicht für Diabetes vollständig aus? Nein. Aber sie zeigen, dass der Einfluss des Gewichts auf die Erkrankung vollkommen übertrieben dargestellt wird, was zu Ausgrenzung und Stigmatisierung führt – und dies sind in sich wieder Risikofaktoren.
Um das Ganze mal in Relation zu setzen: Von 100.000 Kindern entwickeln zwölf einen Diabetes Typ 2. Dagegen stehen zum Beispiel Autismus mit 340 Fällen auf 100.000 Kinder, Down Syndrom mit 120 Fällen oder Krebs mit 15 Fällen. In unserer schlankheitszentrierten Gesellschaft ist das Risiko für ein Kind, eine Essstörung zu entwickeln, 242 Mal höher, als an Diabetes Typ 2 zu erkranken [Link zu „Helping without Harming: Kids, Eating, Weight and Health“].
Ein weiterer Risikofaktor kommt für mehrgewichtige Menschen hinzu: Sie werden aufgrund von Gewichtsdiskriminierung schlechter ärztlich versorgt. Denn obwohl Mehrgewicht auch von Ärzt_innen mit Diabetes assoziiert wird, werden viele Erkrankungen erst dann entdeckt, wenn schon Schäden aufgetreten sind [Link zu Der Standard].
Risikofaktor Übergewicht: Verursacht Übergewicht Bluthochdruck?
Bluthochdruck kommt bei mehrgewichtigen Menschen häufiger vor. Das veranlasste zu der Annahme, dass Übergewicht Bluthochdruck auslöst. Doch obwohl das durchschnittliche Gewicht in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen ist, zeigt eine großangelegte amerikanische Studie, dass das Risiko für dicke Menschen, einen Bluthochdruck auszubilden, im Vergleich zu 1960 um 18 Prozent gesunken ist [Link zu „Secular trends in cardiovascular disease risk factors according to body mass index in US adults“]. Gut dokumentiert ist auch das sogenannte Adipositasparadoxon, also der Fakt, dass dicke Patient_innen mit Bluthochdruck länger leben als „normalgewichtige“ [Link zu „Obesity Paradox in Patients with Hypertension and Coronary Artery Disease“].
Wenn Mehrgewicht selbst nicht der Risikofaktor für Bluthochdruck ist, für den wir ihn gehalten haben, warum haben dicke Menschen dann häufiger einen erhöhten Blutdruck? Den Grund vermuten Forscher_innen in Gewichtsschwankungen durch Abnehmversuche und Diäten. In Kulturen, die kein Schlankheitsideal kennen, also in denen Diäten nicht an der Tagesordnung sind, findet sich nämlich nur ein sehr schwache Korrelation von Mehrgewicht und Bluthochdruck [Link zu „Biomedical Rationale for a Wellness Approach to Obesity: An Alternative to a focus on Weight Loss“].

Bei Tests mit Ratten fand man überraschend heraus, dass übergewichtige Tiere einen niedrigeren Blutdruck hatten. Erst nachdem man die Tiere durch einen Kreislauf von Füttern und Fasten geschickt hatte, bildeten sie einen Bluthochdruck aus. Dabei bekamen Tiere, die ein genetisch bedingtes hohes Gewicht hatten, einen besonders ausgeprägten Bluthochdruck, wenn sie Diätkreisläufe durchlaufen hatten [Link zu „Refeeding hypertension in obese spontaneously hypertensive rats“].
Auch bei übergewichtigen Menschen erhöhen häufige Gewichtsschwankungen das Risiko, Bluthochdruck auszubilden [Link zu „Associations of short-term weight changes and weight cycling with incidence of essential hypertension“]. Eine Studie kam beispielsweise zu dem Ergebnis, dass mehrgewichtige Frauen mit aufgrund von Diäten schwankendem Gewicht öfter an Bluthochdruck litten als solche ohne Gewichtsschwankungen [Link zu „Weight fluctuations could increase bloodpressure in android obese women“].
Risikofaktor Übergewicht oder Risikofaktor Stress?
Wenn ein hohes Gewicht nicht der Auslöser für diese Erkrankungen ist, auf welche Faktoren lassen sie sich dann zurückführen? Und inwiefern und wieso treten diese Faktoren gehäuft bei dicken Menschen auf? Ein heißer Anwärter auf die Krankheitsursache Nummer eins in Industrienationen ist: Stress.
Sind wir gestresst, mobilisiert unser Gehirn Hormone und Nervensystem für eine „Flucht oder Angriff“-Antwort. Die Herzfrequenz steigt, gespeicherte Energie wird aktiviert, Blut wird verstärkt in die Muskeln gepumpt. Wir sind sehr fokussiert auf die Gefahr, damit wir schnell reagieren können. Ist die Gefahr vorbei – sind wir geflohen oder haben angegriffen – fährt der Körper seine Stressreaktion wieder runter.
Diese Erholungsphasen fehlen heute vielen Menschen im Alltag. Wir sind kontinuierlich Stress ausgesetzt: Leistungsdruck, Zeitdruck, existenzielle Ängste, Ausgrenzung und Diskriminierung. Wenn die Stressreaktion zu oft einsetzt oder gar nicht mehr abebben kann, spricht man von chronischem Stress. Diese Art von Stress ist ein maßgeblicher Risikofaktor für viele Krankheiten, die mit sogenanntem Übergewicht assoziiert werden: Bluthochdruck, Herzinfarkt und Diabetes [Link zu AOK]. Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko für Infektanfälligkeit und Depressionen.

Gruppen, die Dauerstress durch beispielsweise Body Shaming und Diskriminierung erleben, zeigen ein größeres Krankheitsrisiko als privilegiertere Gruppen. Die Unterschiede zwischen den Gruppen können dabei nicht durch den „Lebensstil“ erklärt werden [Link zu „Status Syndrome: A Challenge to Medicine“]. Das bedeutet, dass Stress den Einfluss von Lebensstilfaktoren wie Ernährung und Bewegung deutlich überlagert (→ Wo sind all die Dicken hin? | Übergewicht im öffentlichen Raum).
Für mehrgewichtige Menschen ergibt sich hier ein weiterer Zusammenhang: Denn für Diäten ist bewiesen, dass sie die Cortisolproduktion (Stresshormon) steigern und zu chronischem Stress führen können [Link zu „Low calorie dieting increases cortisol“]. Das Bedürfnis – oder genauer: der gesellschaftliche Zwang -, das Gewicht zu reduzieren, erhöht also durch chronischen Stress das Risiko für sogenannte mit Übergewicht assoziierte Erkrankungen (→ Warum wir das Schönheitsideal überwinden müssen). Und das ist nicht alles.
Risikofaktor Übergewicht oder Risikofaktor Diät?
98 Prozent der Menschen, die eine Diät (dazu zählen auch sogenannte „Ernährungsumstellungen“ → Woran du eine Diät erkennst) machen, wiegen nach spätestens fünf Jahren wieder so viel wie vor der Diät, meist sogar mehr (→ Warum werden wir dick?). Mehrgewichtige Menschen machen überdurchschnittlich viele Gewichtsschwankungen mit, weil sie häufiger versuchen, durch restriktive Maßnahmen abzunehmen [Link zu „Attempting to lose weight: Specific practices among U.S. adults“].
Wir wissen heute, dass Gewichtsschwankungen, also der Wechsel zwischen Abnahme und Zunahme, durch verschiedene Faktoren Entzüdungen im Körper fördern. Diese sind maßgebliche Risikofaktoren für viele der gemeinhin mit Übergewicht assoziierten Krankheiten, wie etwa Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Insulinresistenz und Diabetes [Link zu „Wie Stress das kardiovaskuläre Risiko erhöht“].
Studien zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Herzkreislauferkrankungen und Gewichtsschwankungen stärker ausgeprägt ist als zwischen Herzkreislauferkrankungen und Gewicht (BMI) [Link zu „Body-Weight Fluctuations and Outcomes in Coronary Disease“]. Das bedeutet, dass nicht die oder der Mehrgewichtige das größte Risiko für Herzkreislauferkrankungen trägt, sondern die Person, die in ihrem Leben oft ab- und zugenommen hat – unabhängig von ihrem Gewicht.
Die neueren Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass ein erhöhtes Krankheitsrisiko oftmals nicht durch das Mehrgewicht selbst, sondern durch häufige Gewichtsschwankungen, sprich: Abnehmversuche, gefördert wird [Link zu „Influence of obesity, physical inactivity, and weight cycling on chronic inflammation“]. (→ Wie Diäten dich dick und krank machen)
Was bedeutet das für den „Risikofaktor Übergewicht“?
Soll Übergewicht hier als Risikofaktor weggeredet werden? Nein, denn das ist nicht das, was wissenschaftliche Ergebnisse uns sagen. Aber die Risiken sollen im Sinne der Gesundheit dicker Menschen realistisch eingeschätzt werden.
Mit der Art, wie mit Mehrgewicht derzeit in der Gesellschaft und in Arztpraxen umgegangen wird, fördern wir die Stigmatisierung dicker Menschen und gefährden ihre Gesundheit. Die neuere Forschung mahnt immer wieder, dass wir Mehrgewicht viel differenzierter betrachten müssen [Link zu „Morbidität und Mortalität bei Übergewicht und Adipositas im Erwachsenenalter“], als wir das bisher tun, und dass alleine der BMI keine Gewichtsreduktion als Therapiemittel rechtfertigt.
Gesunde dicke Menschen werden mit Verweis auf ein angebliches Krankheitsrisiko zu restriktiver Ernährung genötigt. Dies führt zu Gewichtsschwankungen, die wiederum ein enormer Risikofaktor sind. Auf diese Weise werden mehrgewichtige Menschen krank gemacht und die Mär vom allumfassenden Risikofaktor Übergewicht genährt (→ Warum Abnehmen dich dein Leben kostet). Diskrimierung, Ausgrenzung und Body Shaming bringen ihre Gesundheit zusätzlich in Gefahr (→ Glorifiziert Body Positivity Übergewicht?).
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Titelfoto und Beitragsfoto 1: Robina Weermeijer
Beitragsfoto 2: Death To Stock
Beitragsfoto 3: Alexandru Acea
Beitragsfoto 4: Abigail Clarke
Beitragsfoto 5: AllGo
Mehrgewicht und sein Einfluss auf die körperliche und psychische Gesundheit sowie gesellschaftliche Teilhabe ist ein komplexes Thema. In einem Artikel können diese multifaktoriellen Wechselbezüglichkeiten natürlich nicht komplett aufgedröselt werden, zumal es stetig neue Daten und Erkenntnisse gibt. Dieser Artikel erhebt also keinen Anspruch auf abschließende Klärung, sondern beschäftigt sich lediglich mit einem Teil der Materie.
Um die Lücke zu schließen, widmet sich Marshmallow Mädchen der gewichtsneutralen journalistisch-wissenschaftlichen Aufarbeitung von Themen rund um Mehrgewicht und Body Positivity. Alle Artikel mit wissenschaftlichem Faktencheck findest du unter Fette Fakten.