Unsere Gesellschaft ist besessen von Schlankheit und Jugend – so sehr, dass sie ein unerreichbares Ideal erschaffen hat, das uns allen schadet. Die Konsequenzen sind so gravierend, dass wir das Schönheitsideal überwinden müssen.
Warum es so schwierig ist, das Schönheitsideal zu überwinden
Wissen wir nicht alle, dass die menschlichen Objekte in Werbeanzeigen mit Photoshop bearbeitet worden sind? Doch zwischen Wissen und Begreifen besteht ein Unterschied. Der Weg von der Perzeption – dem Wahrnehmen – hin zur Kognition – dem Erkennen – ist es ein steiniger, denn wir müssen tief verwurzelte Glaubenssätze über das Schönheitsideal überwinden lernen (→ Body-positiv leben: Negative Glaubenssätze erkennen und auflösen).
Rational verstehen viele von uns, dass das derzeit gängige westliche Schönheitsideal vollkommen unrealistisch ist. Es scheitert an der menschlichen Knochenstruktur, an der Physik und gemeinhin an der Tatsache, dass wir eben alle ein bisschen anders aussehen (→ Warum du einfach nicht abnehmen kannst und der Jo-Jo-Effekt immer wiederkommt). Wäre es da nicht vernünftig, dich zu akzeptieren, wie du bist, anstatt verzweifelt und vergeblich zu versuchen, etwas Unveränderliches zu verändern? Müsste es logisch betrachtet nicht ein Leichtes sein, das Schönheitsideal Lügen zu strafen?
Das Problem mit dem Schönheitsideal
Geschätze 99 Prozent aller Menschen, die wir in Zeitschriften und auf Werbeplakaten sehen, sind nicht echt. Wiederholung für die Kognition: Keiner der dargestellten Werbemenschen existiert.
Das bedeutet, dass selbst die Models – deren Aussehen schlechterdings als Nonplusultra des Schönheitsideals gilt – immer noch nicht perfekt, noch nicht genormt genug sind, um dem Ideal zu genügen. Verrückt, oder? Dennoch: Wir sehen diese Bilder und wissen, dass sie nicht der Realität entsprechen und trotzdem fühlt sich unser reales Ich unzulänglich (→ Warum du dicke Heldinnen brauchst).
Diese gefühlte Unzulänglichkeit versuchen wir zu kompensieren, indem wir konsumieren: Diätprodukte, Kosmetikprodukte, Beauty-Filter, kosmetische Eingriffe. Obwohl wir aus Erfahrung wissen, dass das Schönheitsideal morgen ein anderes sein könnte, verändern wir unsere Körper nachhaltig – vom Augenbrauenzupfen zu Brustimplantaten. Obwohl wissenschaftlich bewiesen ist, dass keine Diät funktioniert, probieren wir es doch immer wieder und schelten uns selbst, wenn es nicht klappt (→ Alle Diäten funktionieren! Was uns Diätstudien verraten).
So gefährlich ist das Schönheitsideal
Wer nicht dem Schönheitsideal entspricht, gilt als defekt, als wertlos. Das „unperfekte“ Aussehen wird als persönliche Fehlleistung wahrgenommen. Je größer die Abweichung vom Ideal, desto störender wirkt dieser makelbehaftete Mensch, desto mehr Ablehnung erfährt er (→ Wo sind all die Dicken hin? | Übergewicht im öffentlichen Raum).
Oft wird der Begriff Schönheitsideal im Plural genutzt. Doch in unserer westlichen Gesellschaft gibt es nur ein einziges Schönheitsideal: unerreichbar schlank, unerreichbar jungendlich, unerreichbar „makellos“ und natürlich weiß. Die Reduzierung des Menschen auf ein einziges akzeptables äußeres Erscheinungsbild macht uns alle inakzeptabel und führt zu ständiger Bewertung und Diskriminierung (→ Du bist genug (und warum du das nicht glauben kannst)).
Wir unterwerfen uns dem Diktat einer Industrie, die von der Imperfektion, die sie uns selbst einredet, profitiert (→ Wie der Kapitalismus deinen Körper kaputt macht (Mampfschrift)). Die Gehirnwäsche ist dabei so effektiv, dass wir selbst das anzustrebende Schönheitsideal immer wieder in unseren Äußerungen und Handlungen reproduzieren, obwohl wir wissen, dass es unerreichbar ist (→ Was ist Diätkultur?). Wir verlangen von uns und anderen Unmögliches. Der Mensch hat es sich noch nie leicht gemacht, seine Menschlichkeit zu akzeptieren.
Können wir das Schönheitsideal abschaffen?
Hand aufs Herz: Welche Menschen findest du denn wirklich schön? Magst du womöglich ganz gern Männer mit Bäuchen? Findest du androgyne Frauen attraktiv? Lassen dich kleine „Unperfektheiten“ – die Zahnlücke, die schiefe Nase, das Schielen – dahinschmelzen?
Dein Gefühl für menschliche Schönheit ist durch all deine Erfahrungen geprägt, wird aber meist vom medialen Schönheitsideal mit seinem Mere-Exposure-Effekt überlagert (→ So wirst du unabhängig von den Sprüchen der anderen). Oft empfindest du die Menschen als schön, die dich an angenehme Menschen aus deiner Vergangenheit erinnern. Diese Assoziationen sind meistens unbewusst, aber in ihnen schlummert deine Kraft, das gesellschaftliche Schönheitsideal zu überwinden.
Dennoch wird suggeriert, dass es immer nur ein Ideal geben könnte. Dass dieses sich allerdings alle paar Jahre ändert, ist alleine schon Beweis dafür, dass diese Annahme nicht stimmt. In Wahrheit gibt es so viele Schönheitsideale, wie es Menschen gibt (→ Wie ein Marshmallow: Die Ästhetik dicker Körper (Mampfschrift)). Wenn du das begreifst, entziehst du dem medialen Schönheitsideal die Macht über dich.
Warum wir das Schönheitsideal überwinden müssen
Wenn es also unendlich viele „Ideale“ von Schönheit gibt, macht das die Diskussion über Schönheit nicht hinfällig? Jein. Denn das eigentliche Problem hinter dem diätkulturell indoktrinierten Schönheitsideal ist nicht die Frage nach Schönheit, sondern die Koppelung von äußerem Erscheinungsbild und Wert eines Menschen (→ Das Paradoxon der Body Positivity).
Das betrifft nicht nur, wie du andere wahrnimmst, sondern auch, wie du mit dir selbst umgehst (→ Wenn du deinen Körper nicht lieben kannst). Die Diätkultur und ihr Schönheitsideal richten einen enormen Schaden an und bedrohen Leben und Lebensqualität von Millionen von Menschen (→ Warum Abnehmen dich dein Leben kostet).
Wenn wir nur respektieren, wen wir schön finden, ist das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft (→ Body Positivity Kritik: Was Body Positivity nicht ist). Ist das Schönheitsideal dabei auch noch ein unerreichbares, dann entziehen wir uns kollektiv die Würde.
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