Ich will nicht abnehmen. Ich glaube nicht daran, dass es der Lebensinhalt jeder (dicken) Frau sein sollte, sich in einem kontinuierlichen Abnehmprozess zu befinden. Mein Leben hat mir gezeigt, dass es wichtigere Dinge gibt als die Zahl auf der Waage.
Neulich habe ich beim Yoga eine Dame getroffen, die ich aus meiner Weight-Watchers-Zeit (2006/2007) flüchtig kannte. Sie nahm mich gleich beiseite, um mir zu verraten, wie sie abgenommen hat. „Nur mal so als Tipp“, sagte sie. Und ich dachte: Danke, aber ich will gar nicht abnehmen.
Das habe ich nicht laut gesagt, denn ich kann jemandem, der mich aus meiner abnehmwütigen Zeit kennt, nicht vorwerfen, dass er nicht weiß, dass ich über das Thema Abnehmen heute ganz anders denke.
Willst du abnehmen oder willst du glücklich sein?
Ich bin dick und ich will nicht abnehmen. Das ist ein Satz, der bei vielen Menschen Schnappatmung verursacht – bei anderen Dicken zum Beispiel oder bei den Trainern im Fitnessstudio.
Dicke Menschen sind ja generell nur im Sportstudio, um abzunehmen (→ 10 Gründe, Sport zu treiben (die nicht abnehmen sind)). Das Lebensziel von (dicken) Frauen muss es doch schließlich sein, sich im ständigen Abnehmprozess zu befinden. Es gibt doch immer etwas zu optimieren, findet die Werbung. Nur schlank ist schön, finden die Frauenzeitschriften. Nur wer den optimalen Körper hat, der ist auch ein wertvoller Mensch, findet die Gesellschaft.
Ich habe auch lange Zeit geglaubt, ich müsse abnehmen, um schön, erfolgreich, begehrt zu sein. Ich bin dem strahlenden Ritter in glänzender Rüstung so lange hinterhergelaufen, bis ich gemerkt habe, dass viele Dinge, die glänzen, doch nicht der Heilige Gral sind.
Abnehmen hat mich nicht glücklich gemacht
Abnehmen hat nicht gehalten, was es versprochen hat: Ich war nicht glücklich. Warum wirkte dieses Allheilmittel bei mir nicht?
Weil ich den Wunsch eines anderen gelebt habe. Wer dieser andere war, ist nicht genau zu sagen. Es ist eben die gesellschaftliche Prämisse, Dicke müssten abnehmen – weil: Gesundheit, Schönheit, Krankenkassenkosten und so (→ Warum Body Positivity nichts mit Gesundheit zu tun hat). Aber war das überhaupt mein Wunsch? Wollte ich denn abnehmen? Oder wollte ich nicht vielmehr all die positiven Attribute, die mit Schlankheit assoziiert werden? (→ Gefängnis der Schönheitsideale)
Ja, ich wollte glücklich sein, erfolgreich, angesehen, sexy etc. Mein Problem war nicht mein Gewicht. Mein Problem waren meine eigenen Überzeugungen, dass ein glückliches Leben wegen meines Aussehens nicht möglich war. Mein Problem waren Depressionen, die durch meine Abnahme nicht auf magische Weise geheilt wurden (schlanke Menschen haben keine Depressionen, oder?). Mein Problem war ein ständiges schlechtes Gewissen, ein durch Abnehmwahn vollkommen gestörtes Verhältnis zum Essen – und zum Leben.
Abnehmen ist nicht mein Lebensinhalt
Und als wäre es mir nicht schon mies genug gegangen, kam es noch schlimmer. Bei mir wurde eine Krankheit diagnosiziert – die allen Unkenrufen zum Trotz rein gar nichts mit Übergewicht zu tun hat – und kurz darauf starb mein Papa. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens – aber sie hielt auch die wichtigsten Lehren meines Lebens für mich bereit.
Seit einiger Zeit hatte ich mich schon mit Body Positivity und Selbstliebe beschäftigt (→ Was ist Body Positivity?). Ich war mutiger und selbstbewusster geworden (→ Wie wird man eigentlich selbstbewusst, wenn man dick ist?), aber ich schwamm noch immer in den Erwartungshaltungen der Gesellschaft hin und her – Erwartungen bezüglich meines Gewichts und Aussehens, meiner Rolle als Frau, meines Berufsweges.
Doch wer schon einmal eine Begegnung mit dem Tod hatte und sich der Endlichkeit seines eigenen Lebens bewusst geworden ist, der hat für einen kurzen Zeitraum einen vollkommen klaren Blick auf sein eigenes Sein. Mir erging es auf jeden Fall so. Ich sah sehr deutlich vor mir, was ich wollte – und was nicht. Und vor dem Hintergrund, dass mein Leben auch irgendwann ein Ende finden wird, richte ich mich so kompromisslos wie möglich danach. Das Leben ist zu kurz, um nicht zu tun, was das Herz will (→ Selbstbewusstseinsbooster – Kostenloser Workshop).
Ich will nicht abnehmen
Der Tod hat mir gezeigt, was mir im Leben wirklich wichtig ist. Und abnehmen ist es nicht (→ Scheiß auf Orangenhaut!). Versteh mich nicht falsch, ich habe überhaupt nichts gegen das Abnehmen an sich. Ich bin lediglich zu der Überzeugung gekommen, dass das Wunsch danach, dies zu einer Priorität im Leben zu machen, aus einem selbst kommen muss. Und so sehr wir uns das einzureden versuchen, komme ich dennoch immer mehr zu dem Schluss, dass die meisten nicht aus sich selbst Gewicht verlieren wollen. Es ist der Subtext der Gesellschaft und der Medien, der so tief in uns verankert ist, dass wir glauben, es sei unser eigener (z.B. → Verursacht Übergewicht Cellulite?).
Mache doch einmal folgendes Gedankenexperiment: Angenommen wir wachten morgen auf und Dicksein wäre vollkommen normal. Du würdest als Mensch wahrgenommen, hättest alle Chancen, glücklich und erfolgreich zu werden, einen Partner zu finden etc. pp. Würdest du dann abnehmen wollen? Schau mal ganz tief in dich hinein, hinter deine Überzeugungen. (→ Warte nicht auf schlanke Zeiten)
Die simpelste Einsicht der Welt
Ich will nicht abnehmen, das heißt, ich will nicht zum Abnehmen verdammt sein. Mein Gewicht ist nur ein sehr kleiner Teil meines Wesens und diesen Teil möchte ich nicht weiterhin überbewerten. Meine persönlichen Ziele sind andere: Ich will mir ein Leben kreieren, das mich vollauf befriedigt und in dem ich nicht depressiv werde. Dann kann ich am Ende auch zufrieden die Augen schließen. Ich will fit und gesund sein – ja, das geht auch mit Übergewicht. Ich will mein gestörtes Verhältnis zum Essen normalisieren. Ich will meine Zeit hier auf Erden nutzen. Ich will andere dazu inspirieren, ihren ganz eigenen Weg zu gehen.
Seitdem ich mir meiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse bewusst bin, lebe ich ein vollkommen anderes Leben (→ Wie ich lernte, dick und selbstbewusst zu sein). Ich bin endlich glücklich und weiß, was ich will – und das ist das Wichtigste für mich. Ich weiß, dass meine Ansichten paradoxerweise irgendwie revolutionär sind und einige Leute gar nicht darauf klarkommen, weil sie so weit aus den gesellschaftlichen Konventionen ausbrechen und sämtliche Ketten sprengen (→ Öfter mal Konventionen brechen). Dabei ist es vielleicht die simpelste Einsicht der Welt: Erkenne deine Bedürfnisse, lebe danach und du wirst glücklich sein.
Titelfoto: Adelas Peculiar Art