Body Positivity muss sich oft Kritik gefallen lassen, weil sie in einer ohnehin auf Äußerlichkeiten fixierten Gesellschaft das Augenmerk auf den Körper legt. So berechtigt der Wunsch auch sein mag, endlich nicht mehr über Körper diskutieren zu müssen, so fern liegt er auch. Denn bisher haben wir vollkommen falsch über Körper gesprochen. Das Paradoxon der Body Positivity: Wir müssen über Körper reden, um endlich nicht mehr über Körper reden zu müssen.
Wie wir über Körper sprechen
Wenn wir heute über Körper sprechen, dann sprechen wir über Ideale (→ Gefängnis der Schönheitsideale). War das westliche Schönheitsideal mindestens seit Twiggy durch Schlankheit und Jugend gekennzeichnet, so ist die Indoktrination durch Medien und Schönheitsindustrie mittlerweile so weit fortgeschritten, dass das heutige Ideal nur noch mithilfe von Bildbearbeitung erreicht werden kann: unnatürliche Körperformen, eine Haut so glatt wie die Plastikbeine von Barbie, alterslos und so gesund, dass man quasi gar nicht mehr sterben kann. Wie schön muss ich sein, um wertvoll zu sein?
Mit dem Einzug der Body Positivity in die Diskussion hat ein erstes Umdenken eingesetzt (→ Was ist Body Positivity?). Doch wir sind noch weit davon entfernt, unsere gesellschaftliche Körperbesessenheit überwunden zu haben. Zwar öffnen sich die Ideale, doch die Grundlagen der Diskussion über einen „wertvollen“ Körper – und damit wertvollen Mensch – bleiben dieselben: Schönheit und Gesundheit.
Nur die Frage hat sich verschoben: Wie hässlich, wie krank darf ich sein, um noch wertvoll zu sein? Es ist in Ordnung, ein wenig abzuweichen, aber näher am Ideal wäre trotzdem noch besser. (→ Ich bin body-positive, aber…)
Wie Body Positivity den Körper sieht
Body Positivity ist ein Konzept, das sich mit dem Körper beschäftigt. Jedoch entkoppelt es Körperlichkeit vom Wert eines Menschen. Die Prämisse der Body Positivity ist also, dass jeder Mensch wertvoll ist. Punkt. (→ Was Body Positivity nicht ist)
Da in unserer Gesellschaft Wert über Körperlichkeit definiert wird, erfahren viele Menschen eine Abwertung – oder werten sich selbst ab -, weil sie nicht dem Ideal entsprechen. Body Positivity setzt hier an, indem sie Selbstwertgefühl vermittelt „Du bist vollkommen okay, so wie du bist“ und den Menschen Instrumente an die Hand gibt, um sich selbst mit einem positiveren Blick zu betrachten (→ Selbstwertgefühl stärken bei Übergewicht – 3 Tipps).
Body Positivity und Selbstliebe werden nicht ohne Grund oft synonym gebraucht (→ Body Positivity ist nicht Selbstliebe). Denn auch wenn Body Positivity ihren Ansatzpunkt im Körperbild findet, so geht es doch letztlich um ein inneres Umdenken, um das Überprüfen von Glaubenssätzen und das Erforschen persönlicher Bedürfnisse und Wertesysteme.
Das Paradoxon der Body Positivity
Um die Fokussierung auf Körperlichkeit zu durchbrechen, setzt Body Positivity also genau dort an: am Körper. Wir sind noch nicht bereit, einfach nicht mehr über Körper zu reden und sie aus unserem Wertesystem zu streichen. Weil Körper in unserer Gesellschaft wichtig sind, müssen wir über sie reden, bis wir endlich nicht mehr über sie reden müssen.
Denn im Rahmen der Body Positivity tritt ein interessantes Phänomen auf. Menschen, die Body Positivity als Konzept für sich entdecken, haben meist über einen sehr langen Zeitraum – oft ihr ganzes Leben – mit ihrem Körperbild gekämpft. Wenn sie Frieden mit ihrem Körper schließen, ihn wohlwollend betrachten und bedürfnisorientiert behandeln, wird er plötzlich unwichtiger (→ Was ist Body Neutrality?). Der Fokus verschiebt sich hin zu Zufriedenheit, Bedürfniserfüllung, individuellen Sichtweisen auf das Leben, auf sich und andere. Der Körper verschwindet aus dem Wertekatalog, der definiert, was ein wertvoller Mensch und ein wertvolles Leben ist.
Wenn diese Entwicklung gesamtgesellschaftlich einsetzt, dann können wir aufhören, über Körper zu sprechen.
Titelfoto: Kaboompics